Sonntag, 3. September 2017

LeseBlog

Als es begann, dieses Bücherfieber


Ich hatte das Glück in einem Elternhaus groß zu werden, in dem das geschriebene Wort kein Buch mit sieben Siegeln war, im Gegenteil, Bücher gehörten dazu, wie die Luft zum Atmen. Noch mit frischer Druckerschwärze versehen, war Jim Knopf von Michael Ende das erste Buch, welches mir persönlich gehörte. Es folgten viele und in der kleinen Jugendbücherei am Woog wusste ich ganz genau in welchem Regal welche Autoren zu finden waren. Ich gebe zu, den Überblick zu wahren, war nicht schwierig, schwieriger war es da schon, sich zum festgesetzten Datum wieder vom Buch zu trennen. Positiv war, es konnte dann ein neues Abenteuerbuch von den 5 Freunden, Fury oder Karl May und ähnlichem den Weg zum Kopfkissen finden. Apropos Karl May, Winnetou Teil III habe ich nie gelesen :-).
Schwieriger wurde es, als sich die Jugendbücherei mauserte und in das neue Gebäude umzog - damit befand sie sich außerhalb des Radiuses, in dem ich mich mit meinem Fahrrad bewegen durfte, was Kinder aber im allgemeinen und speziellen nicht interessiert.
Doch mit zunehmendem Alter verlor ich die Interesse an Büchereien, aber nicht an Büchern. Ich wollte lieber Bücher, die noch nicht durch ewig viele Hände gegangen waren, Bücher ohne
Eselsohren und gebrochene Buchrücken, Bücher ohne frei gestaltete künstlerische Ausschmückungen. Dennoch, als ich endlich aus dem Alter der Jugendbücherei war und in die Bücherei für Erwachsene wechseln durfte, füllte ich noch so manche Ausleihkarte. Mein durch Hilfsarbeiten im Büro und Fotolabor erworbenes Geld steckte ich in die Romane von Georgette Heyer. Über einen Roman von Georgette Heyer konnte schon einmal eine Nacht vergehen, wofür hat man sonst langweiligen Unterricht, zum schlafen.
Mein Unwille gegenüber Büchereien ist jedoch rein subjektiv. Objektiv betrachtet, finde ich es sehr gut, dass es Büchereien gibt, nirgends kann man ungestörter der Leselust frönen, ein Gefühl für Bücher entwickeln, ein Buch zur Hand nehmen, darin schmökern und es wieder, bei Nichtgefallen, ungestraft ins Regal zurück verbannen. Denn seien wir uns darüber im klaren, es kann nicht jedes Buch jedem gefallen. Bestseller-Autoren werden von den Medien kreiert, ob sie auf's Podest unseres persönlichen Bestseller-Autoren schaffen, bleibt jedem unbenommen.
Später wurden zur wahren Fundgrube die Bücher vom Bücherbund. Der Vorteil lag auch hier für mich auf der Hand: der feste Bucheinband war viel haltbarer als die Paperback-Ausgaben und dank der Buchclub-Mitgliedschaft dennoch nicht teurer. Den "Hauptvorschlagsband" des Quartals bekam ich nie aufs Auge gedrückt - es sei denn ich holte ihn mir freiwillig - denn mein Einkaufs-Soll erfüllte ich mühelos. Eindeutiger Nachteil des Hardcovers: das Bücherregal wird schneller voll.
Der Buchclub diente dazu meinen Bedarf an "Schmuse-Literatur" zu decken, für Krimis ging ich an den unendlichen Vorrat von meinem Vater und wenn es was nachzuschlagen galt - ach diese Internet freie Zeit damals - waren die Lexika meines Vaters stets auf dem neuesten Stand.


Bücher, der Stoff zum Träumen

Einige Autoreninnen

Von Anfang an hatten Bücher für mich den eindeutigen Zweck, mich in das Reich der Träume zu entführen. Das ist bis heute so geblieben, denn mit nichts, als dem geschriebenen Wort, kann ich so gut noch meine Fantasie beflügeln. Ich bekomme im Buch eine Landschaft, einen Gegenstand, einen Menschen beschrieben, kann die Augen schließen und sehe vor dem inneren Auge das Beschriebene. Sehe ich hingegen einen Film, so wird mir ein fertiges Bild vorgesetzt, nichts bleibt meiner Fantasie zum Ausschmücken. 
Nicht wundern, ist eine Weile her,
August 1977
Ein Buch zieht mich aus dem Alltag, bringt Saiten in mir zum Klingen, ich bin der Resonanzboden für die Schwingungen. Oh der Fernsehapparat hat auch so sein gutes, man kann prima im Fernsehsessel davor einschlafen.
Georgette Heyer ( 1902-1974) schrieb Bücher, deren Handlung in einem Jahrhundert bevor sie die Romane schrieb spielten. Nichts schöneres gibt es für ein junges Mädchen, als in der romantisch-verklärten Zeit des Biedermeiers einzutauchen. Man kann in dem alten London wandeln, oder in fernen Parks verweilen, Gewänder rascheln hören, oder dem Geklapper der Pferdehufe und dem Rattern der Kutschen auf den Straßen lauschen. Sicher, die eine oder andere Romanfigur hat es gegeben, aber niemand verlangt, daß der Wahrheitsgehalt des Romanes irgendwelchen Tatsachen entspricht. Als ich jedoch 1977 mein Tagebuch zur dreiwöchigen England-Rundreise schrieb, begann ich alles mit dem folgenden Zitat: "The English are different. The English are even more different than they think they are." von J.B. Prestley. Ich fand die Landschaft, wie G. Heyer sie beschrieben hatte, ich wäre am liebsten nie mehr aus  England zurück gekehrt. Das Wetter war ohne jeglichen Einfluß auf mein Befinden. Aber hier geht es um Bücher. Die von G, Heyer beschriebene Landschaft findet sich ebenfalls in Romanen, die mehr als 150 Jahre eher geschrieben wurden, die eine ganz andere Aussagekraft haben.
Jane Austen (1775-1817), die anonym unter "by a lady" veröffentlichte, schrieb einerseits in einer fantastischen Sprache - was leider nicht durch jeden Übersetzender getroffen wird - andererseits waren ihre Romane aber auch sehr zeitkritisch. Wenn man genau in den Text hineinlauscht merkt man, unter welchem Zwang das weibliche Geschlecht damals stand.  - Entweder du fügst dich dem Ehemann, oder du verkommst als gerade so geduldete, unentgeltliche, Hilfe im Haushalt, bis das nächste Abstellgleis auf dich wartet.
Natürlich bezaubern die Figuren aus <Pride and Prejudice> mit Elisabeth und Darcy seit Generationen das Publikum, finden ein Plätzchen in Filmen und Telenovelas, Männer müssen sich an Mr. Darcy messen lassen, etwas, was Jane Austen sicher so nicht im Sinn hatte. Dafür vermag die Arroganz von Emma zuweilen zu einem Stirnrunzeln verhelfen. Aber über allem schwebt eine untadlige Sprache, die den Leser nie erröten läßt. Damit zählen die Romane "Stolz und Vorurteil" und "Emma" zur klassischen englischen Literatur.
Charlotte Brontë (1816-1855) ist hingegen in meinen Augen schwerer zu lesen, da will man nicht neugierig den nächsten Absatz erreichen, gleich wie bei einem Spaziergang, bei dem man gespannt ist, welcher Anblick sich nach der nächsten Kurve oder dem nächsten Hügel auftut. "Jane Eyre" kann man lesen, wenn man durchhält.
Katie Fford (Jahrgang 1952) ist ebenfalls eine Schriftstellerin aus England. Auch Katie Fford - leider werden ihre Romane in Amerika verfilmt und damit auch in den amerikanischen Rhythmus und die amerikanische Landschaft transportiert - schreibt ihre Romane unter dem "Wohlfühl-Aspekt". Romane zum Träumen, es darf auch mal eine Träne vergossen werden, aber immer mit Happy-End. Man merkt den Texten an, daß sorgfältig recherchiert wird, da sie im Jetzt spielen, wird unwillkürlich geprüft, ob sich Handlungen nachvollziehen lassen. Es sind, wie auch bei den vorher genannten Schriftstellerinnen Liebesromane, aber man muß beim Lesen nicht rot werden.
Verlassen wir die Insel, doch bleiben wir dem englischsprachigem Raum.
Cecelia Ahern (Jahrgang 1981) hat ihre Wurzeln in Irland, dem Land der Kobolde. Ihre Bücher sind zum Träumen, mit viel Phantasie und einem Hang zum - nah halt typisch für Kobolde. Aber jeder Buchstabe lesenswert, gibt man sich der Phantasie hin.
Kathleen E. Woodiwiss (1939-2007) gilt als die erste Schriftstellerin des Genre "Bodice Ripper", dies ahnte ich jedoch nicht, als mir 1975 mein erster Roman von ihr unter die Augen kam. Grob erklärt bezeichnet "Bodice Ripper"  einen nicht jugendfreien Abenteuer- und Liebesroman, der in historischer Vergangenheit spielt. Als Amerikanerin kann sich Frau Woodiwiss nicht ganz der "alten Welt" verschließen, doch die überwiegende Handlung spielt im Amerika, als man sich noch mit Kutschen vorwärts bewegte. Den "braven" Romanen von Georgette Heyer (fast) entwachsen, regten die Romane von Kathleen Woodiwiss die Fantasie so an, daß man beim Lesen nicht nur in der Story eintauchte, sondern auch die Gefühle mitschwangen. - Der Playboy für die Herren der Schöpfung ist nichts dagegen. -                
Anne Golon (1921-2017) ist, gemeinsam mit ihrem Ehemann, die schöpferische Mutter von Angélique. Die Romane über Angélique füllen seit 1971 ein Bücherregal bei mir, doch sind sie bei weitem nicht so freizügig wie die Romane des Genre "Bodice Ripper".
Theresa Ragan  tummelt sich wie Kathleen Woodiwiss mit manchen ihrer Romane gerne in der Vergangenheit herum, doch im Gegensatz dazu sind die Romane gleichzeitig Zeitreisen. Wie treffend ist ihr Zitat zu Beginn des 1. Kapitel im Roman "ein Ritter im Central Park" <Mit genügend Fantasie kann man die Wirklichkeit überwinden>. Wie
Alexandra Graham (Jahrgang 1983) schreibt historische Liebesromane, die kaum etwas der Fantasie überlassen. Wobei das Pseudonym Alexandra Graham ausschließlich diesem Genre vorbehalten bleibt. Mit A. Graham als Bindeglied kommen wir nach Deutschland, auch
Emily Bold (Jahrgang 1980) hat unter anderem auch historische Liebesromane veröffentlicht.
Sophia Farago  veröffentlicht unter dem Pseudonym ihrer ungarischen Urgroßmutter, ihre große Leidenschaft gilt der englische Geschichte. Mit ihren Regency-Romanen knüpft sie an die Romane von Georgette Heyer an, wen wundert es, daß einem einige der handelnden Personen bekannt vorkommen?
Egal ob nun Woodiwiss, Ragan, Graham, Farago oder Bold, die Wortwahl und Wortgewandtheit der Schriftstellerinnen empfängt mich als Leser bereits auf der ersten Seite mitten in der Story. Ich lege zwar meine Lektüre zur Seite, weil wichtige Erledigungen auf mich warten, doch bei nächstbester Gelegenheit tauche ich wieder in den Roman ein, fühle mit den handelnden Personen mit, doch nie habe ich das Bedürfnis zu schimpfen, ein anderer Autor hätte diese Szene aber besser geschrieben, das steht mir nicht zu.

Damit verlasse ich wieder die Schriftstellerinnen, deren Roman in einem anderen Jahrhundert spielen und mehr oder weniger unter "Bodice Ripper" einzuordnen sind, auch wenn bei weitem nicht alle aufgezählt sind, die sich mit dieser Thematik befassen, noch nicht einmal alle, die bei mir im Bücherregal Unterschlupf gefunden haben.
Im Oktober 2011 erwarb ich meinen ersten eReader den ich zunächst mit "Nachschlagewerken" zu Themen fütterte, die mich interessierten, für die ich jedoch keinen Platz in meinen Bücherregalen frei räumen wollte. Tatsächlich habe ich die Bücher überwiegend nur angelesen und dann beschlossen, daß die Themen von mir nicht weiter vertieft werden, so z.B. zum Buddhismus. Meinen ersten Roman für den eReader erwarb ich von Ali McNamara, ihren Roman "Tatsächlich Liebe in Notting Hill" wollte ich gerne auf Reisen mitnehmen, die Taschenbuchausgabe, natürlich nicht ungelesen, im Regal stehen lassen.

Also komme ich zu den Schriftstellerinnen, deren Romane in der nahen Vergangenheit, zuweilen jedoch auch in der Zukunft - zumindest im Zeitpunkt, als sie geschrieben wurden, angesiedelt sind. Und natürlich beginne ich wieder mit Romanen die zum Träumen einladen. Da greife ich mir meinen eReader und beginne alphabetisch.

Poppy J. Anderson
Jahrgang 1983, veröffentlicht mehrere Buchreihen.
In der Ashcroft-Saga wird zunächst die Irrungen und Wirrungen des ältesten Ashcroft-Sprosses Patrick erzählt, bis er endlich am Ziel seiner Wünsche angelangen kann. Band zwei handelt von seiner Schwester Barbara, deren Ehe nach einem harten Schicksalsschlag ins straucheln gerät und Band drei handelt von dem jüngsten der Geschwister, Stuart. Natürlich findet auch dieser Sunnyboy seinen Meister. Alle drei Ashcroft Geschwister stehen mitten im Leben, würde da nicht plötzlich etwas unvorhersehbares geschehen und alle Planungen über den Haufen werfen und so muß jeder der Geschwister auf seine Art mit dem Schicksal kämpfen um dann doch seinem Herzen zu folgen. Was wäre ohne den Zusammenhalt der Geschwister. Jeder Band für sich ist lesenswert und da die Schicksalsschläge nur zu bewältigen sind, wenn man zusammenhält ist es schön, kann man Romane als Fortsetzung lesen.
Die nächste Buchreihe von Poppy J. Anderson handelt von der Familie Fitzpatrick. Die Familie Fitzpatrick lebt in Bosten und besteht aus der frisch verwitweten Mutter und deren 5 Kinder, die sich liebend gerne wie die Axt im Walde verhalten. Da geht manches zu Bruch unabhängig davon, daß die fünf Geschwister eigentlich alle verantwortungsvoll für die Öffentlichkeit tätig sind, sei es als Feuerwehrmann, Polizist oder Mediziner. Und auf den Mund gefallen sind weder die 4 Buben, noch das einzige Mädchen in der rauen Band. Auch bei der Fitzpatrick-Reihe wird der Familienzusammenhalt groß geschrieben, man lernt bei der Feuerwehr, auf dem Polizeirevier und im Krankenhaus ein und aus zu gehen und freut sich mit jeder weiteren Story, die bereits kennengelernten nicht aus den Augen zu verlieren.
In der Hailsboro-Reihe geht es um die ledigen weiblichen Bewohner und Besucher der osttexanischen Kleinstadt Hailsboro. Ich bin sicher, Poppy J. Anderson hat einen genauern Überblick über das Städtchen und seine schrulligen Bewohner. Wie ist doch das Sprichwort "je oller, desto doller". Da gibt es weibliche Bewohner im Rentenalter mit Haaren auf den Zähnen, vor denen man sich nur fürchten kann - oder über die man schallend lachen muß. Hier kennt jeder jeden und für den ständigen Klatsch gibt es einen trefflichen Ort: Die Bäckerei von Kate's Großmutter. Die kommt damit auch in jedem Band vor, oder anders beschrieben, keiner entgeht dem gnadenlosen Klatsch. Überwiegend sind die Bücher der Hailsboro-Reihe Kurzromane, bevor Langweile aufkommt ist die Story auch schon vorbei. Dafür greifen viele in einander über, zumal wenn man das Schandmaul von der Seniorin Alma nicht aus den Ohren bekommt. In späteren Folgen übernimmt Kate die Bäckerei von ihrer Großmutter und Poppy J. Andersen kann sich ab dem ersten Band der Reihe ihrer heimlichen Leidenschaft, dem Backen, widmen da nun gleich:
Die Köche von Bosten "Taste of Love" ist die neueste Reihe von Poppy J. Anderson hier geht die Autorin ihrer Kochleidenschaft nach und natürlich geht neben dem Wettstreit ums kochen auch der Wettstreit, wer wen überlistet und (bislang sind 3 der 4 Bände erschienen) wer zuerst kapituliert ohne zu verlieren.


                                                                                                                                                  

Mittwoch, 27. April 2016

Herzinfarkt, muß das sein?

Ich will, ich will, ich muß!
Eigentlich habe ich seit Monaten das Gefühl, daß mir alles zuviel ist. Am liebsten würde ich meinen Hof zusammfassen und mit den Menschen, die mir lieb sind, in die Toskana  beamen. Dabei kann ich nicht begründen, warum Toskana, vielleicht wegen der Wärme, den Lavendelfeldern, dem Thymian- und Rosmarinduft. Bei jeder Kleinigkeit gehe ich an die Decke, ich würde am liebsten den lieben Gott einen guten Mann sein lassen und die Decke über den Kopf ziehen.
Als ich mich am Donnerstag ins Bett lege, habe ich feste Arbeitspläne für Freitag und Samstag. Freitag vorbereiten und Samstag durcharbeiten, damit ich mein Pensum schaffe, ohne die Extraschicht am Samstag nicht zu bewältigen: ich muß! Mein Zeitplan steht.
Dann wache ich um kurz nach 1 Uhr wieder auf, die Schmerzen in der Brust strecken sich über die Oberarme bis in die Fingerspitzen aus. Raus aus dem Bett, ob der Gang ins Badezimmer hilft, hilft mir Bewegung?  Ich schnappe mir mein Handy und sehe im Internet nach den Symptomen für Herzinfarkt nach. Kalter Schweiß ìn Kombination mit den Schmerzen läßt mich erneut nach dem Handy greifen, wohl mit verzweifelter Stimmen rufe ich meinen Lieblingssohn um 1:47 an. Er sagt mir, daß er sofort kommt.
Funktioniert mein Hirn? Schaltet es auf Autopilot?
Damit der Anruf zurückverfolgt werden kann, greife ich zum Festnetztelefon, wähle die 110. Ein freundlicher Mann erklärt mir, daß ich die 112 wählen soll, er würde mich aber auch gerne verbinden. Ich bedanke mich und wähle die 112. Meine Instruktionen weniger genau "Bucha, das alte Wohnstallhaus neben der Feuerwehr". Auch Mark hat inzwischen den Notruf erreicht, nachdem er aus dem Funkloch ist, mein Notruf ist bereits registriert und er kann die Sanitäter einfangen, die ob meiner "präzisen" Beschreibung in Bucha suchend herum fahren.  Und ich, ich überlege mir einen Moment, ob ich nicht saugen sollte, damit es ordentlicher ist, wenn jetzt jemand Fremdes ins Haus kommt. Ich entschließe mich jedoch dagegen, lieber gehe ich runter in den Stall und schließe die Tür auf, schließlich steckt der Schlüssel von innen.  Endlich, für mich nach einer gefühlten Ewigkeit, höre ich die Stimme von meinem Sohn. Faustus tänzelt nervös um mich herum, Hänsel meint auf mir rum trampeln zu müssen , ich reagiere auf alles unwillig. Mark wird es richten.
Damit die Hilfe zu mir vordringen kann, wird Faustus im Bad eingesperrt. Ich werde ermahnt ruhiger zu atmen, soll nicht hyperventilieren. Das EKG bringt nicht genügend Aufschluß , auf einer leuchtend roten Luftmatratze werde ich in den Hof getragen und auf die Trage geschoben. Und dann geht es ab in Richtung Oschatz, zunächst.
Kaum fahren wir vom Hof, schon ertönt das Martinshorn. Ich schimpfe: "meine Nachbarn wollen schlafen!" Dann entsteht eine angeredet Diskussion darüber, ob Collm-Klinik, Riesa oder Herzzentrum Leipzig,  ich setze mich für Oschatz ein, doch ìn Oschatz ist um diese Zeit die Herzabteilung geschlossen. Der Kontollanruf in Riesa, unterbrochen durch Funklöcher, ergibt, daß in Riesa Ärzte zur Verfügung stehen. Und wieder kommt mir die Fahrt ewig vor. Ich bekomme einen Hub Nitroklyzerin auf die Zunge.  Später folgt ein weiterer Hub, neugierig will ich wissen, ob ich jetzt gesprengt werde.
Endlich in Riesa angekommen, halten mein Krankenordner und mein Handy die gewünschten Auskünfte bereit, ich bin es leid zum wiederholten Mal meinen Namen und mein Geburtsdatum zu nennen. Als ich nach dem Alter meiner Mutter gefragt gefragt werde, bin ich der Ansicht, daß es sich die Ärzte selbst errechnen sollen, nenne lediglich den Jahrgang 1927.
Gedanken, oder gar Angst, um meinen Körper mache ich mir nicht. Es kommt, wie es kommt.

Dresden, Intensivstation

In Riesa sind sich die Ärzte sicher, daß ich in der Uniklinik von Dresden besser aufgehoben bin, aber der notwendige Hubschrauber fliegt nicht, es ist zu neblig. Also wird ein extra schneller Fahrer angefordert. - Wir wollen Spaß, wollen Spaß, wir geben Gas, geben Gas. - Rekord!  35 Minuten Fahrzeit trotz Nebel und beginnendem  Berufsverkehr. Davor hatte ich noch darum geben, daß Mark eine WhatsApp (5:59) geschickt bekommt, daß mich meine Reise weiter nach Dresden führt. In Riesa hatten mich die verabschiedenten Ärzte mit den besten Wünschen, dem schnellen Notarztwagen übergeben einer Riesaerärztin meinen Krankenordner ans Herz gelegt und sie dazu verdonnert, mich zu begleiten. Die Ärztin ist müde, sicher hat sie bereits einen langen, anstrengend Arbeitstag hinter sich gebracht. Ich unterhalte mich mit ihr über die Wegstrecke, den Nebeĺ und den beginnenden Berufsverkehr. Natürlich erkenne ich die Holperbrücke von Cossebaude -  noch 10 Minuten Fahrzeit, dann sind wir da, werden in der Morgendämmerung von einem Ärzteteam erwartet.
Der Uhrzeiger schleicht, ich liege in einem lebhaften Raum, es ist Samstag, der 16. April, Freitag der 15. April 2016 wurde offensichtlich aus meinem persönlichen Kalendarium  gestrichen. Ich bilde mir ein, meinen Sohn zu hören, es muß eine Einbildung sein, denn ich sehe ihn nicht. Immer wieder höre ich, es ist Samstag der 16. April, Sie sind auf der Intensivstation. - Ich habe es ja kapiert, auch wenn die Worte nicht an mich gerichtet sind. Ärzte kommen an mein Bett, Schwester Kerstin kümmert sich um mich. Ich werde den Ärzten mit den Worten vorgestellt , daß ich ansprechbar sei und auch auf Anforderung reagieren würde. Das mir davon vorgeschwärmt wird, daß mein Sohn mich gleich besuchen kommt, hilft mir weniger, ich will nicht noch länger warten, bis er endlich zu mir darf! Endlich sehe ich Mark die Intensivstation betreten, immer wieder muß er sich die Augen reiben, ich bin selig, daß wir uns an den Händen halten. Durch die unzähligen Schläuche, die mir Mund und Nase blockieren, kann ich nicht reden, mit den Fingern male ich Buchstaben auf die Bettdecke, wir haben Verständigungsschwierigkeiten, bis ich zu Großbuchstaben übergehe.  Dann klappt es mit gutem Willen auf beiden Seiten. Die Zeit vergeht viel zu schnell und Mark muß wieder zurück nach Strehla, angenehm, daß die Besuchszeiten so variabel sind.
Der Sonntag rauscht auf der Intensivstation nur so an mir vorbei, es zählt nur die Zeit, wenn Mark bei mir ist, ich gleite im Dämmerzustand durch Zeit und Raum, unterbrochen von Gedanken, die um meinen Arbeitsplatz kreisen. Der Montag gleicht dem Sonntag, meinem Bettnachbarn zur Rechten geht es langsam besser, der Überwachungsplatz mir gegenüber ist in der Nacht frei geworden.
Am Abend, noch bevor Mark kommt, wird der dicke Schlauch aus meinem Mund gezogen, krächzend und unter Schmerz entringe ich mir die ersten Worte. Morgen, gegen 12:30 soll ich von der Intensivstation auf die normale Krankenstation verlegt werden.
Am Montagaben lasse ich Mark nicht eher von meiner Seite weichen, als bis das letzte Tageslicht gewichen ist.
Am Dienstag ìn der Früh bekomme ich, obwohl die Magensonde noch liegt, die  erste "feste" Mahlzeit, heiße Vanillecreme. Das Experiment glückt und ich werde den nächsten Schlauch los, meine Stimme ist mir ìmmer noch unbekannt.
Die Wassermatratze, die meinen Körper während der letzten Tage in Bewegung gehalten hat, wird entfernt, dafür das Fußteil höher gestellt, überrascht nehme ich den Unterschied wahr.
Dann überstürzen sich die Telefonanrufe. Mein Bruder ruft mich von unserer Mutter aus an, will mich mit Illa besuchen.  In der Nacht hatten mich Alpträume geplagt, nun höre ich seine Stimme durchs Telefon. Später ruft auch meine Schwester an, bestätigt mir, daß die beiden mich am Mittwoch besuchen wollen. So eine weite Fahrt, von Landshut und Darmstadt bis hierher, ich bin mir nicht sicher, ob mir das recht ist.
Schwester Kerstin kümmert sich treusorgend um mich,  kredenzt mir Kartoffelbrei mit heller Soße, liebevoll von Kapern befreit, die ich sogleich vom Tellerrand zurückkullern lasse. Dann übernimmt mich Schwester Cathleen, die mich mitsamt Bett an den neuen Bestimmungort kutschiert.

Dresden Stadion 2A , Zimmer 90

19. April, 12:40. Eigentlich hätte ich heute Morgen um 9:15 im Haus 27e einen Termin zur Voruntersuchung für die Speiseröhre gehabt, stattdessen liege ich "festgeschnallt" in meinem Bett.
Ich komme von der Intensivstation,  meine Zimmernachbarin war am Morgen noch zur OP, ihr Ehemann freut sich, daß die Operation so gut überstanden wurde, er schenkt ihr einen dekorativen großen Blumenstrauß aus gelben und lila Tulpen, natürlich gehört eine wunderschöne Besserungskarte dazu. Als ich mich lobend zum Blumenstrauß äußere, ernte ich einen kritischen Blick - kein guter Start für die Zimmergemeinschaft. 
Der Besuch von Tochter und Ehemann ist kurz, dieTochter scheint die beruhigenden Worte des Ehemanns ins russische zu übersetzen, doch nicht sehr erfolgreiche. Als sie das Zimmer verlassen, höre ich Verzweiflung aus dem Nachbarbett. Verzweiflung wird von Dämmerschlaf abgelöst, Trost nicht akzeptiert. Ich bin ihr viel zu munter.
Am Abend kommt der Ehemann von Frau J. wieder, auch dieses Mal ist sie nur solang gefaßt, bis ihr Ehemann den Raum verläßt.
Wie auch an den Abenden zuvor, trenne ich mich nur ungern von Mark, Vorfreude auf den nächsten Abend. Heute bestand meine Ernährung aus heißer Vanillecreme, Kartoffelbrei mit heller Soße und am Abend Kartoffelbrei mit dunkler Tütensoße. Am nächsten Morgen, mein ständiges Wasser darf ich inzwischen aus einer Tasse trinken, den abscheulich schmeckenden Plastikschnabelbecher konnte ich glücklicherweise zurück geben, denn Schwester Cathleen hatte Mitleid mit mir, beginnt ruhige Routine.
Der Anblick meiner Hände, die sehr einem Ballon ähneln, begeistert mich überhaupt nicht, der Schritt auf die Waage bestätigt ein Plus von 4,5 kg. Hände, Beine und Gesicht spannen. Das Frühstück bestand aus warmem Schokopudding mit, von mir gewünscht, Milchkaffee. Nach der Visite schreiten die Physiotherapeuten zur Tat. Frau J., ihr Mann war Ausbilder der Beiden, soll zuerst aktiviert werden, der erhoffte Anknüpfungspunkt wird jedoch von ihr abgelehnt, das nächste Konfliktpotenzial ist gegeben. Als ich dann an der Reihe bin, Rücken einreiben, Atemübungen und dann ein Gang über den Gang, der Geräteständer von meinem Bett darf auch mit, fließt das Gespräch munter über All you can eat, dem zurückliegenden Cuba Urlaub,  die Vorteile a la Carte zu essen, wo spanisch und wo portogiesisch gesprochen wird, hin und her. Zurück an meinem Bett, soviel Bewegung ist gar nicht gesund 😅,  werde ich wieder fest verkabelt und unter die Decke gesteckt.
Das Mittagessen ist gerade abserviert, Kartoffelbrei an Brokkolimedaillon mit Formfleisch vom Rind, als meine Geschwister das Zimmer betreten. Wir unterhalten uns, leider fühlt sich meine Zimmernachbarin sehr gestört davon. Doch das Gespräch, dem ich so skeptisch gegenüber stand, entwickelt sich positiv. Zum erstenmal habe ich den Eindruck, daß mich mein Bruder, so wie ich bin, wahr nimmt. Auch die Frage nach Alexander bekomme ich wahrheitsgemäß beantwortet. Es ist über 1 Stunde vergangen, als meine Geschwister wieder Richtung Lauf, wo sie sich getroffen hatten, aufbrechen. Meine Entschuldigung gegenüber meiner Zimmernachbarin wird als rücksichtslos abgelehnt. Die gut gemeinte Aufforderung der nun zuständigen Schwester, daß Frau J. Wasser trinken müßte, bringt das Faß zum überlaufen, ungehalten verlangt Frau J. ihren Ehemann erst anzurufen, davor darf nicht Hand an ihr angelegt werden.
Binnen kürzester Zeit kommt Herr Dr. J.  mit der Tochter angestürzt, versucht zu schlichten, dann kann er für seine Frau ein Einzelzimmer ergattern. Hoffentlich kehrt jetzt Ruhe für Frau J. ein. Ich bin froh, daß meine Freundin Sabine erst kommt, nachdem die Zimmerfrage geklärt ist. Diese Nacht werde ich nicht für meine Zimmernachbarin den Notknopf drücken müssen.
Und ich freue mich über das schöne Blumensträußchen von Sabine und auf den Besuch von meinem Sohn. Sabine verspricht mir, sich für mich um die Anschluß-Reha  zu kümmern, die von mir erwünschte Klink in Schmannewitz steht leider nicht zur Auswahl. Schon am Freitag oder Montag soll es losgehen.

Die nächsten Tage in Dresden

Am Abend bekommt mein armes Kind die Wunschliste der Reha-Klinik in Hände gedrückt, viel zusätzliche Arbeit lastet nun auf ihm. Zu vorgerückter Stunde verläßt er mich, ein schlechtes Gewissen muß ich gegenüber meiner Zimmernachbarin ja nicht haben, ich genieße ebenfalls den Luxus des Einzelzimmers, hoffentlich nur für eine Nacht. Seit Dienstag verfüge ich über den Luxus von Handy und Tablet, erste Telefongespräche mit TI und Groti sind möglich, der Geräteständer neben meinem Bett ist gut bestückt und bei jedem Schritt dabei. Die Tortur der Wiederbelebung meines Darmes habe ich mehr oder weniger überstanden. Auch die ungewöhnlich vielen Besucher - mein Sohn zählt natürlich nicht dazu.
Donnerstag, heute will die Sozialarbeiterin nochmals vorbei sehen und meine Anschluß-Kur in Bad Gottleuba bestätigen. Die Kur soll bereits morgen anfangen, vorausgesetzt alle Kabelanschlüsse sind aus mir entfernt. Da ich von den vielen Kabeĺn, die meinen Körper verlassen, eh nicht so begeistert bin, stimme ich den Ärzten zu, ihnen obliegt die fachliche Beurteilung. Auch der Anschluß, mit allem Zubehör, des externen Schrittmachers soll entfernt werden.
Chefarzt Dr. Brose kommt vorbei, stellt sich mit den Worten vor, daß er mich am Freitag operiert habe, es sei ganz schön knapp gewesen. Nun wolle er, wie versprochen, nochmal nach mir sehen. Sein Besuch ist aufschlußreich.
Als im Laufe des Donnerstagmorgen - es kann jetzt ziehen, werde ich hilfreich darauf aufmerksam gemacht - die störenden Elemente aus mir gezogen werden, fühle ich mich einerseits befreit, andererseits ausgelaugt.  Die Betonung liegt auf letzterem. Ich bin noch erschöpft vom Kabelziehen, als meine muntere neue Zimmernachbarin hineingeschoben wird. Kritisch beäugt sie mich, ob ich wohl auch so eine empfindliche Pflanze bin.
Bis der Praktikant des Physiotherapeuten mich unter die Hände nimmt, ist der Geräteständer bereits mächtig entlastet. Resolut beginnt er mit massieren, Atemübungen und dann geht es auch schon zum Gang über den Gang. Er kommt meinem Wunsch nach, daß ich mich am Ständer festhalten will, prompt wird er von seinem Chef darauf hingewiesen, daß ich mich nicht am Geräteständer festhalten soll, sonder er mir besser den Arm reicht, damit ich bei ihm einhaken kann. Knotternd, daß Praktikanten schließlich auch über einen Kopf verfügen würden, hakt er sich bei mir unter. Wohlbehalten und von weiteren Korrekturen verschont, überläßt er mich später meinem von mir zwischenzeitlich doch sehr geschätztem Bett. Ich bin erschöpft, da kann das Mittagessen nichts dran ändern: Kartoffelbrei mit etwas Soße an Karottenmedaillon und geformtem Püree aus hellbraunem Fleisch.
Schichtwechsel um 14 Uhr, Schwester Elisa übernimmt, ich und auch die mich betreuenden Schwestern können sich nur schwer vorstellen, daß morgen meine Kurbeginn sein soll, der diensthabende Stationsarzt schon, die Sozialarbeiterin hat alles vorbereitet, Mark muß den Koffer packen. Immerhin, zu den Mahlzeiten bewege ich mich an den Tisch, meine Bauchmuskeln fühlen sich jedoch noch nicht in der Lage, meine Beine ohne Unterstützung ins Bett hochzubewegen.
Ich genieße die ruhige Atmosphäre der Station.
Kurz nach 15 Uhr bringt mich Schwester Becky wie ein Brausewind zum Röntgen, wir unterhalten uns über den Roland von Belgern und die Lutherstadt Wittenberg. Bedauernd stellt sie fest, daß sie keine Gelegenheit hatte, das Hundertwasser-Gymnasium zu betrachten, ich schwärme ihr davon vor, meine aber, daß es von innen noch viel eindrucksvoller sei.
Erneut kehrt im Zimmer 90 Ruhe ein, nur unterbrochen von munteren Worten, die zwischen Frau Lukas, meiner Zimmernachbarin, und mir gewechselt werden. Frau Lukas hat im vergangenen Jahr Diamantene Hochzeit gefeiert, ihr Ehemann ist gerade 83 geworden. Die Informationen fliegen mir nur so zu, dennoch vergeht auch der Donnerstag mit viel vor sich hindämmern und kurzen Wachphasen, doch fühle ich mich erschöpfter als am Tag zuvor. Und immer wieder erfüllt das Geräusch nahender Rotorblätter das Zimmer.

Spielzeitverlängerung

Nach dem Abendessen werde ich ins Bad gebracht, eigentlich wollte ich mich nur kurz frisch machen. War dann doch der Tag zulange? Wie ein Schluck Wasser in der Kurve, hänge ich über dem Waschbecken, die rote Notfallschnur unerreichbar neben der Toilette. Als ich sie endlich zu packen bekomme, ist Hilfe sofort zur Stelle. Ich bin froh, daß Mark in diesem Moment nicht zur Tür hereinkommt. Als die hinzugerufene Ärztin angeeilt kommt, haben mich Schwestern und Pfleger schon sicher im Bett untergebracht, mir eine extra Portion Sauerstoff verpaßt und mich mehrfach zur Ordnung gerufen. Wird schon werden.
Später kommt dann auch Mark, wie immer geht es mir gleich besser, wenn er zur Tür hereinkommt. In der Nacht plagt mich ìmmer wieder leichte Übelkeit, doch überstehe ich sie ohne weitere Zwischenfälle. Am frühen Morgen ist Frau Lukas bereits auf dem Weg zu Dr. Brose, sie bekommt nun ihren Schrittmacher eingebaut, als der zuständige Stationsarzt bei mir vorbei kommen, sich mit mir über den Beginn der Reha unterhält, jetzt ist auch der Stationsarzt davon überzeugt, daß der Kurbeginn auf Montag verschoben gehört. Als er meint, es sei der 8. Tag nach der OP, korrigiere ich auf den 7. Tag, davon scheint er irritiert zu sein.
Sicherheitshalber habe ich mein Frühstück im Bett eingenommen. Beruhigt, daß ich bleiben kann, dümpelt der Vormittag an mir vorbei, für die Physiotherapie war ich nicht eingeteilt. Frau Lukas wird wieder ins Zimmer geschoben, sogleich bekomme ich das Erlebte mit lebhaften Worten berichtet.
Das Mittagsmenü für mich birgt wieder kulinarische Höhepunkte, Kartoffelbrei an Brokkolimedaillon mit Formfleisch vom Fischstäbchen, fast unberührt lasse ich es an mir vorübergehen. Und immer wieder sehe ich mich genötigt meine liebe Zimmernachbarin zur Ruhe zu mahnen. Als erstes müssen die Zähne wieder an ihren Platz, promt fällt der Sandsack auf den Boden, der den Schrittmacher auf Position halten soll, ich betätigte den Schwesternruf. Da wird solang unruhig hin und her gezappelt bis sich die Tastatur für die Bettverstellung löst, ich betätige den Notruf. Und immer wieder fröhlich - übermütige Worte meiner Zimmernachbarin. Dann kommen Tochter und Schwiegersohn von Frau Lukas vorbei, die Tasche für die Kur meiner Zimmernachbarin muß ebenfalls gerichtet werden. Ruhe für die Mutter kann die Tochter nicht vermitteln, sogar ich werde nervös. Ihr Ehemann sitz auf einem unserer beiden Stühle und liest ein mitgebrachtes Bildungsblatt, nichts bringt ihn aus der Ruhe, das kann nur jahrelange Übung sein.
Dr. Brose kommt vorbei, sieht nach seiner Patientin von heute. Auch bei mir bleibt er kurz stehen, ist damit zufrieden, daß ich noch bis Montag im Herzzentrum bleibe.
Langsam kehrt Ruhe ein, nach dem Abendessen bleibt uns nur eins, wir warten, daß mein Sohn kommt, schließlich freuen wir uns fast gleichermaßen auf seinen Besuch. Es ist schon lange dunkel, als er sich auf den Heimweg macht, versehen mit Tipps zur Lausitzer Hausmannskost und vielen Umarmungen.
Die Nacht wird unruhig, so oft betätige ich den Notruf. Die Nachtschwester kommt nach den ersten beiden Malen schon nicht mehr zu mir, sondern sieht gleich an das Bett meiner Zimmernachbarin. Kein Wunder, daß ich am Samstag leicht erschöpft in den Seilen hänge, mehr oder weniger vor mich hindöse. Hellwach rüttelt mich das Mittagessen, auf meinem Teller sind ein Löffel Kartoffelbrei, ein Klecks durchgeleierte Karotten und eine heller Brei, der nicht nur so aussieht, als wäre ein Huhn über den Teller gelaufen, sondern auch so schmeckt. Da kann der Teelöffel Soße nichts retten, ich ziehe mich in mein Bett zurück. Mein Fehler ist, meiner Speiseröhre habe ich diese Kost zu verdanken.
Als Mark am Nachmittag zu Besuch kommt, ist er weniger begeistert von seiner Mutter, die schlaff im Bett liegt. Doch am Abend ziehen belebende Geister bei mir ein, die Servicekraft hat ein Einsehen mit mir, ich bekomme eine Cremesuppe serviert. Der Sonntag beginnt essenstechnisch gleichermaßen erfreulich, zum Frühstück nenne ich 45g Frühstücksquark und 75g Früchtejoghurt mein eigen😊. Und als Mark dann am Nachmittag zu Besuch kommt, ist er wieder versöhnter mit dem Anblick seiner Mutter. Den Kuraufenthalt kann er sich dennoch nicht so recht vorstellen, ich mir auch nicht. Auch wenn die Waage verrät, daß sich das Plus von 4,5 kg in ein Minus von 4,5 kg gewandelt hat, meine Hände wieder normale Ausmaße haben.

Bad Gottleuba

Es ist soweit, nach dem Aufstehen verabschiede ich mich vom zur Verfügung gestellten Krankenhausnachthemd, zwänge mich, unbeweglich wie ich bin, in Leggins und T-Shirt. Sogar mein Butycase zu schließen, fehlt mir die Kraft. Das kann ja heiter werden.
Um kurz vor 9 Uhr, seit dem Frühstück lümmle ich auf dem Bett, hingegen Frau Lukas vor ihrer Abreise nach Bad Schandau nochmals zum Röntgen muß, werde ich von der frisch aus dem Urlaub zurückgekehrten Schwester gefragt, ob ich denn nun fertig für die Abreise sei und der Arzt für mich das Taxi nach Bad Gottleuba bestellen könnte. Ich kann dem nur zustimmen, schicke Mark eine WhatsApp, daß nun das Taxi bestellt ist. Fast eine Stunde später, um 10:45 kündigt Stimmengewirr auf dem Flur die Ankunft des Taxifahrers an. Als ich mich zu schwach für den Ausflug zum Taxi fühle, hat dann die Schwester doch erbarmen mit mir und führt mich zum Aufzug und dann bis auf die Straße zum Taxi hin; am Arm der Krankenschwester atme ich den Duft der großen weiten Welt des Nikotins ein.
Wir fahren über das Käthe-Kollwitz-Ufer, wechseln am Blauen Wunder die Elbseite und dann geht es durch Pillnitz nach Pirna. Der Taxifahrer meint, die Fahrt über Pillnitz fände er ruhiger, unser Gespräch kommt kaum begonnen wieder zum erliegen, da ist mein Schweigen nicht unschuldig daran.
Eigentlich könnte man die Fahrt genießen, zwar kühles, doch schönes Wetter. Teilnahmslos laße ich die Landschaft an mir vorüberziehen, die Fahrt, gut gemeint, jeden Gullideckel umfahrend, hätte ich mir anders vorgestellt. In Pirna ein Moment der Überraschung, ich habe eine junge Mutter im Blick, die mit dem Fahrrad unterwegs ist, die Einkäufe am Lenker, den Hund an der Leine, das Kind im Fahrradsitz auf dem Gepäckträger, als eine feiste Ratte vor uns die Straße kreuzt. Ganz schön unverfrohren.
Endlich am Ziel angekommen schraubt sich der Taxifahrer im Kurklinik-Gelände den Berg hoch, bis es wieder ein Stückchen bergab geht. Das Ziel ist erreicht, der Taxifahrer meint, ich müsse lediglich durch die Glastür gehen und schon wäre rechterhand die Rezeption. Also schleppe ich mich zur Rezeption, mühsam dem Taxi entsteigend. Nur gut, daß ich mich nicht selbst um mein Gepäck kümmern muß. Ich werde von der Rezeptionistin und der Hausdame empfangen, erhalte meinen Zimmerschlüssel und das Angebot, mich mit dem Rollstuhl ìn mein Zimmer zu bringen. Ich nehme dankend an. Und wieder rauscht alles an mir vorbei, dieses Mal ein Gewirr von Aufzügen und Gängen. Zwischendrin werde ich auf den Speisesaal aufmerksam gemacht, hier muß ich mich gleich melden, schließlich ist die Mittagstischzeit gleich vorbei. Ein Pfleger kommt ins Zimmer, macht mich darauf aufmerksam, daß ich mich um meinen Wasserbedarf kümmern muß. Nach kurzem Zögern fragt er mich, ob ich denn 3 Euro hätte, versehen mit dem Geld besorgt er mir eine Trinkflasche, incl. Wasser, für den Brita-Ionox Wasserautomaten. Der Koffer liegt unberührt auf dem Koffersessel, daneben meine Taschen, nach einem Moment Pause raffe ich mich auf, schleiche den Gang vor zum Aufzug und lasse mich die zwei Stockwerke  zum Speisesaal runterfahren. Unter angekommen, werde ich bereits erwartet und zu meinem Platz für die nächsten 3 Wochen gewiesen. Ich sitze an einem Tisch, an dem bedient wird. Als erstes darf ich mir die Speisefolge für die nächste Woche aussuchen, dank meines gesegneten Appetits einigen wir uns auf halbe Portionen. Dann bekomme ich mein Mittagessen serviert. Ich freue mich schon darauf, wieder zurück in mein Zimmer zukommen.
Am Mittag die ersten Termine im Schwesternzimmer und bei der Ärztin,  auch nach meinem Mittagsschlaf steht mein Koffer noch unberührt da, wenigstens war ich in der Lage auf meinem Bett die gerichteten Handtücher zu entdecken. Ich friere, mein Körper ist mit anderem beschäftigt, als mich zu wärmen. Mein Gesamtzustand fühlt sich immer noch an, wie ein Schluck Wasser in der Kurve.
Am Abend schleppe ich mich wieder in den Speisesaal, der junge Mann neben mir hat seine Mahlzeit bereits beendet, doch als er hört, daß mir Suppe angeboten wird, erwacht sein Hunger aufs Neue und schon muß die Servicekraft nicht nur eine Tasse Suppe bringen, sondern gleich vier. Brot, Brötchen, Butter, Margarine und eine bereits geplünderte Platte mit Brotbelag, sowie Salat stehen auf dem Tisch gerichtet. Direkt vor mir, der Behälter mit Knäckebrot, Zwieback und den hier so geschätzten Filinchen. Mir langt die Tasse Suppe.
Am Abend mein Lichtblick des Tages, Mark kommt. Was würde ich nur ohne seinen Bestand machen?

Die ersten Tage der Kur

Am Abend hatte mir Mark noch meinen Koffer aus- und aufgeräumt, der nächste Tag beginnt unbarmherzig um 6 Uhr, meine Tablettenration des Tages wird von der Schwester in mein Zimmer gebracht, vor 7 Uhr soll ich mich im Schwesternzimmer melden. Als ich mich dann im Schwesternzimmer melde, wird festgestellten, daß Grundvoraussetzungen nicht gegeben sind, also bekomme ich einen hübschen kleinen Becher in die Hand gedrückt, alles wird auf den nächsten Morgen verschoben. Nur mein unkontrolliertes Frieren bleibt mir erhalten. In meine warme Strickjacke gehüllt schleiche ich mich an meinen Eßplatz, freue mich auf einen guten Schluck Kaffee. Der Kaffee ist typisch sächsisch, mir viel zu stark. Ich bekomme einen Becher heißen Kakao und ein Schälchen Kräuterquark gebracht. Nach dem Frühstück muß ich ins Haus 12 zur Rezeption, dort sind die Postfächer, ich muß mir mein Behandlungsbuch aus dem Postfach holen. Der Weg zur Rezeption ist kürzer und unkomplizierter zu finden, als ich es von gestern mit meiner Rollstuhlfahrt in Erinnerung habe, doch vor den Postfächern angelangt habe ich Mühe das Fach 13.208 zu finden. Entweder ich habe das Zählen verlernt, oder die Zahlenfolge ist gerade so willkürlich, wie in unsern Aktenschränken das Alphabet. Endlich habe ich mein Heftchen in der Hand, die Hausdame spricht mich an, macht mich darauf aufmerksam, daß ich gestern doch um einen Internetzugang gebeten hätte, der nun für mich an der Rezeption bereit liegt. Wohl versorgt mit Internetzugang und Behandlungsbuch schleiche ich zum Aufzug, nur um kurze Zeit später verwirrt in einem Stock zu landen, in den ich nicht wollt. Auch mein zweiter Haltepunkt entspricht in keinsterweise meinem Wunschziel, der Empore über der Rezeption. Okay, die Reihenfolge lautet "E" für Rezeption und Ausgang, "0" für Empore und "1", "2" für die Patientenzimmer. Ich bin froh, endlich zurück in mein Zimmer im Haus 13 und auf mein Bett zu können, mein nächster Termin ist die Visite zwischen 9.40 und 11.00 Uhr, die bequemerweise im Patientenzimmer stattfindet.
Die ersten Tage der Kur ziehen an mir vorüber, wenn es der Behandlungsplan erlaubt, liege ich auf dem Bett und schlafe. Endlich, nach dem Mittagessen am Mittwoch, höre ich auf zu frieren, mein Körper beginnt sich wieder am täglichen Leben zu beteiligen, wird ja auch langsam Zeit. Zwar ist alles mühsam, doch ich kann langsam das tun, was ich will, am deutlichsten wird es bei den Mahlzeiten, ich beginne das Buffet zu inspizieren und kaum kann ich mir selbst die erwünschten Speisen und Getränke besorgen, bin ich auch schon für meine Tischnachbarn eine willige Bedienung. Darauf angesprochen kann ich nur die Schultern zucken, es macht mir nichts aus, mich dermaßen ausnutzen zu lassen, bin ich es doch von Kindheit her gewohnt hilfreich zur Hand zugehen, egal ob am Familientisch oder bei meiner Tante und später im eigenen Haushalt, dafür haben sich die Gäste auch immer bei mir  wohlgefühlt.
Das ältere Ehepaar, er ist 94 und sie 87, das mir am Tisch gegenüber sitzt, ist am gleichen Tag wie ich eingetroffen, wir werden also die 3 Wochen gemeinsam die Mahlzeiten einnehmen. Ich bin für unsere Getränke, den morgendlichen Joghurt und die eine oder andere Leckerei zuständig, die übrigen 3 am Tisch haben schon mehr als die Hälfte ihrer Kur hinter sich. Der junge Mann, der neben mir sitzt, ist immer als erster am Tisch, ich bewundere jedesmal aufs Neue seinen gesegneten Appetit.
Die Anwendungen, alle "von mildem Temperament" ziehen sich im Stundentakt über meinen Therapierplan: Funktionsgymnastik Aufbaugruppe OP; Gehtraining Aufbaugruppe OP; etliche Seminare rund um den Herzinfarkt, Untersuchungen und Inhalation. Störend anstrengend: das Ergometertraining. Die erste Trainingseinheit breche ich nach 10 Minuten ab, die  Belastung war lediglich 20 Watt, meine Kreuzschmerzen, bedingt durch meine angeschlagene Wirbelsäule, sind unerträglich. Bei der nächstes Trainingseinheit bitte ich darum, auf das Liegendrad zu dürfen, ab sofort wird meinem Wunsch entsprochen.
So gehen die ersten anderthalb Wochen vorbei.

Von Tag zu Tag nähert sich das Ende meiner Kur

Nachdem ich meinen Klammernschmuck am rechten Unterschenkel und auf dem Brustbein wieder los bin, voll Stolz hat mir die Schwester, die für die Wundversorgung zuständig war, ihre reichliche Ausbeute gezeigt, darf ich mich schrittweise wieder der Dusche nähern, eine Wohltat. Natürlich zieren mich anfangs noch etliche Pflaster, doch zumindest mein Unterschenkel ist wunschgemäß verheilt, am Oberkörper muß noch weiter gearbeitet werden. Wundversorgungen ergänzt meine neuerstellten Behandlungspläne. Meine körperlichen Ertüchtigungen kann ich erwartungsgemäß erfüllen, auch wenn ich mich weigere die Treppen für die Überwindung der Stockwerke zu nutzen, mich regelmäßig der sanfte Anstieg des Geländes außerhalb der Gebäude fordert, beginne ich am 7. Tag meines Kuraufenthalts damit kleine Spaziergänge zu unternehmen. Mit dem Aufzug geht es in den 1. Stock, dann eine halbe Treppe runter, darunter sind 16 Stufen zu verstehen, zur Haustür - das Öffnen fällt mir anfangs noch mächtig schwer - nochmal ein paar Stufen runter und dann Schritt für Schritt den Hügel Richtung Pavillon hoch. Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich die wenigen Meter bewältigt, mein Handy klingelt, atemlos nehme ich ab, vertröste meinen Gesprächspartner, bis ich einen rettenden Stuhl vor dem Pavillon erreicht habe. Endlich ausruhen. Nach dem Telefonat möchte ich die Ruhe und die Sonne genießen, doch meine Rechnung geht nicht auf, der Pavillon dient als Raucherinsel. Doch ich muß noch ausharren, Kraft schöpfen, bevor ich mich auf den Rückweg mache der, meiner Antipathie dem Treppensteigen entsprechend, mich um das Haus 13 herum zum Haupteingang der Häuser 12 bis 14 führt. Lieber mehr Schritte, als auch nur eine Stufe zuviel.
Am ersten Sonntag meines Aufenthaltes in der Reha-Klinik entführt mich Mark nach Schmilka und verwöhnt mich im Cafe Richter mit reichlich Schokolade und Cappuccino. So gestärkt kann ich der 2. Woche entgegen sehen.
Das Areal des MEDIAN Gesundheitspark Bad Gottleuba ist eigentlich sehr interessant, es wurde 1909 bis 1913 im Auftrag der LVA Sachsen errichtet, umfaßt 27 Gebäudekomplexe,  von denen lediglich noch wenige auf die Sanierung warten. Aber es gibt Dinge, von denen ich einfach nichts wissen will. So werde ich mir auch die - egal wie interessant - Medizinhistorische Ausstellung nicht ansehen. Das wird sicher niemand bemerken 😊. Auch ein Pflicht-Vortrag über Herzoperation, Bypass und Stent-Op, inklusive Video habe ich nur mit geschlossenen Augen überstanden - mehr schlecht wie recht. Ich will es überhaupt nicht wissen. Mir langt, daß ich nun über einen Reißverschluss verfüge, leicht sichtbar, auch ohne tiefen Ausschnitt, was muß ich da die Einzelheiten kennen? Auch das Wissen der Ärzte, daß sich der Infarkt die letzten 10 bis 15 Jahre zusammengebaut hat und ich meinen Konsum an Schweinefleisch dringend reduzieren muß hilft mir nicht wirklich, denn wenn Wurst, bevorzuge ich schon seit Jahren (Jahrzehnten) Geflügelwurst, bei Fleisch kommt Rind und bestenfalls Geflügel auf den Tisch, somit wird es schwierig den Konsum von Schweinefleisch zu reduzieren.  Aber die Ärzte benötigen einen Schuldigen, jetzt haben sie sich auf das Cholesterin gestürzt. Mark ist mit dieser Diagnose äußerst unzufrieden.  Was mich verwundert ist, daß die Ärzte den Streß nicht als Schuldigen vermuten. Dabei war es eigentlich während meiner Ausbildung und meinem Berufsleben in der BRD ein gefügeltes Wort, daß mindestens jeder 2. Steuerberater einem Herzinfarkt erliegt. Gute Berufswahl. Soviel dazu.
Am Mittwoch der 2. Woche erfolgt die Einweisung in das Buffet. Die Brötchen, die zur Auswahl stehen werden erklärt, nicht die dunkelsten sind die gesündesten, sondern die mit den sichtbaren Körnern. Der Vorteil der Butter zur Margarine wird hervorgehoben und darauf hingewiesen, daß am Tag 5 Portionen Obst und Gemüse gegessen werden sollten,  dabei entfallen auf das Gemüse 3 Portionen. Die Größe der Portionen verblüfft mich hingegen, 1 Portion entspricht lediglich einer Hand voll.
Seit dem Ausflug mit Mark, habe ich begonnen täglich einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. In diesem hügeligen Gelände relativ schwierig, da ich zwar, unter festhalten meiner beiden verbliebenen Pflaster zwischen und unterhalb der Brust, die Treppen herunter komme,  daß Erklimmen der Stufen mir jedoch immer noch recht schwer fällt. Doch versuche ich jeden Tag meinen Spaziergang - von Parkbank zu Parkbank - einwenig auszudehnen.

Freigang von der Kur

Wochenende, Mark holt mich wieder zu einem Ausflug ab, ich habe mir das Kirnitzschtal als Ziel gewünscht, genauer gesagt, die Buschmühle im Kirnitzschtal. Marks Navi führt uns über Sebnitz und das Räumicht ins Kirnitzschtal, also kommen wir von oben zur Buschmühle, die sich seit unserem letzten Aufenthalt nicht verändert zu haben scheint. Das war lange vor Faustusens Zeit, war es überhaupt in diesem Jahrtausend? Der Kaffee schmeckt, der Kuchen schmeckt, das Mühlenrad wird emsig von der rauschenden Kirnitzsch angetrieben. Es könnte etwas wärmer sein, doch läßt es sich im Hof aushalten, Fahrradfahrer, die Rast einlegen, werden beobachtet über Bier und Nikotinkonsum gestaunt. Und ich denke an Margot Werners Interpretation "Meine letzte Zigarette" (Ruth Händel). Zum Abendessen, ich hatte mich für den Abend im Speisesaal abgemeldet, belagern wir die Terrasse des Forsthauses kurz vor den Toren von Bad Schandau, gemütlich lassen wir den Tag mit einer Portion Spargel ausklingen, das nächste Wochenende kommt bestimmt.
Und schon beginnt die dritte und damit letzte Woche meiner Kur. Für den Montag steht ein Hauch von Griechenland auf dem Speiseplan, eigentlich habe ich mich darauf gefreut. Mein Therapierplan ist anderer Ansicht, ich soll mich in der Lehrküche zu "Herzgesundes Kochen", Haus 7 EG, einfinden. "Ihr Mittagessen wurde für Sie abgemeldet". Brav finde ich mich zu festgesetzter Zeit im Vorraum der Lehrküche ein. Die Runde besteht aus 7 Männern,  der Ernähungsberaterin und mir, es soll Salzkartoffeln, überbackene Hühnerbrust und Pfannengemüse geben, die Vorspeise besteht aus Rohkostsalat und auch einen Nachtisch soll es geben. Zubereitung und Zutaten sind für mich keine überwältigende Neuigkeiten, die Herren der Runde lassen alles in dem Bewußtsein über sich ergehen, daß Zuhause am Herd die Ehefrau herrscht. Doch bevor wir an die Zubereitung unseres Mittagessens schreiten, werden wir über die verschiedenen Öle - kaltgepreßtes Olivenöl, Rapsöl und Leinöl - informiert, über den Fettgehalt von 1,5 %, den Milchprodukte mindesten haben sollten und über Brötchen, Butter oder Margarine und die darin versteckten ungesunden gehärteten Fette, aufgeklärt. Auch die Fruchtjoghurte bekommen ihr Fett (der Zucker) weg. Dann geht es in die Lehrküche, manchem Herrn springt die Desinteresse laut aus der Körperhaltung, flotte Sprüche füllen den Raum. Aber ich will nicht über die Herren lästern, die Dame, die ebenfalls an dem Termin hätte teilnehmen sollen, ist erst gar nicht erschienen. Da die Ernähungsberaterin bereits fleißig Vorbereitungen getroffen hat, bleibt nur noch die Fertigstellung des Essens. Als neue Zutat - und Erfahrung - nehme ich "Johannisbrotmehl" mit, das ist die gesamte Ausbeute für mich, nachdem ich mich vergewissert habe, daß ich das von mir geschätzte Kokosöl unbedenklich verwenden kann, es wurde lediglich als positives Fett nicht erwähnt, da es nicht so bekannt ist.
Ach ja, am Mittwoch schließt sich, ebenfalls in der Lehrküche, noch ein Vortrag zur Vollwertkost an, theoretisch mit dem gleichen Teilnehmerkreis, nur der Herr, der am lautesten geschnottert hatte, entzog sich der Teilnahme. Die Effektivität des Vortrags lassen wir mal ruhig dahingestellt sein. Allerdings fehlte mir anschließend eindeutig die um 15 Uhr entgangene Tasse Kaffee.
Am Donnerstag finden die Abschlußuntersuchungen der Kur statt. Das ganze beginnt um 8 Uhr, nach dem Frühstück, mit der Blutprobe. Ich bin nicht die einzige, die sich Blut zapfen lassen muß, etwas was hier durch die Ärzte und nicht die Schwestern geschieht und so treffen nacheinander alle Ärzte der Häuser der Klinik Hellenberg im Schwesternzimmer von Haus 13 ein. Ärzte, deren Namen die unterschiedlichsten Herkunftsländer vermuten lassen, Ärzte, die sich allesamt bislang trefflichst um uns Rekonvaleszenten gekümmert haben. Mit nichts bin ich darauf gefaßt, daß zwei der wartenden plötzlich davon anfangen über die  "Kohle" zu lästern und dabei kein Ende finden.
Zug um Zug geht die Blutabnahme der Reihe nach, egal durch welchen Arzt. Doch obwohl ich noch nicht an der Reihe bin, bittet mich "meine" Ärztin namentlich zu ihr zu kommen, die "Kohle-Dame" ist empört. Die Wahrscheinlichkeit, daß nun genau der Arzt sich ihrer annehmen wird, über den sie so heftig gelästert hat, wächst damit, mich stört es nicht. Und die Ärztin hat ein Anliegen an mich, sie bittet mich eher zum Abschlußgespräch zu ihr zu kommen.

Auf ein Neues

Jetzt sind einige Monate vergangen, bei mir selbst angekommen bin ich nicht. Meine Krankschreibung dauert fort, mit meiner Gesundheit bin ich nicht einverstanden. Meine Ärzte auch nicht. Heute war zur nächsten Untersuchung die Einweisung ins Herzzentrum Leipzig angesagt, also ließ ich mich vom Taxi zur Tagesklinik bringen. Die Fahrt führte uns über die Dörfer weit nach Leipzig-Mitte rein. Rechterhand, bevor die Straße an einer großen Kaserne vorbei führte, ein alter Güterbahnhof, die alte Schrift verblasst, doch gut erkennbar: Die Jugend liebt den Frieden. Nur die Jugend?

Dann wechsle ich in Leipzig-Gohlis das Taxi, die Fahrt geht wieder Richtung Süden zur Herzklinik. Nach über einer Stunde Fahrt werde ich am Empfang der Tagesklinik absetzt, um 11 Uhr soll ich mich melden, doch stelle ich mich schon eher an. Zwar habe ich alles dabei, doch ausreichend Fragebogen habe ich noch nicht ausgefüllt. Also suche ich mir im wohlgefüllten Wartebereich eine Sitzgelegenheit, um das Versäumte nachzuholen. So vergeht auch die Zeit. Um kurz nach 12 Uhr beginne ich mich zu langweilen, gut, daß ich mein E-Book zur Hand habe. Um kurz nach 13 Uhr wird mein Namen aufgerufen, die ersten Untersuchungen und Fragebogen werden von einer Schwester durchgeführt und entgegengenommen. Dafür erhalte ich dann, eich die nächsten Fragebögen für den Arzt,der mich gleich aufrufen würde. Zwei Stunden später ist es soweit. Auf mich wartet Untersuchung und die nächsten Fragebögen. Das Frage- und Antwortspiel zu der Herzkatheteruntersuchung und der unter Umständen folgenden Weiterbehandlung zieht sich dahin. Kurze Zeit später kann ich wieder auf dem blauen Kunstledersessel im Wartebereich Platz nehmen. Ob mich der Sessel schon vermißt hat?

Gerade war ich auf dem Weg ins Reich der Träume, als ich meinen Namen quer durch den Wartebereich schallen höre. Der Betteneinweiser hat ein Nahtquartier in der Abteilung B0 für mich gefunden, freundlich macht er mich darauf aufmerksam, daß ich dann morgen für die nächsten Tage auf Station verlegt werde, wenig begeistert hake ich nach und bekomme erklärt, daß nach dem Herzkatheteruntersuchung sofort die Folgebehandlung beginnen würde und dann müßte ich aus der Tagesklinik auf Station verlegt werden. Nach kurzem Irrlauf finde ich Station B0 und werde in Zimmer 22 eingewiesen. Jetzt darf weiter gewartet werden, angeblich soll heute noch eine Ultraschalluntersuchung stattfinden. Endlich darf ich wieder etwas trinken. Und tatsächlich um kurz nach 20 Uhr werde ich zur Ultraschalluntersuchung abgeholt, Mark ist inzwischen wieder mit einer Tasche mit meinen Sachen eingetroffen - Besuchszeiten werden großzügig ausgelegt. Vom Ultraschall zurück, werde ich darüber informiert, daß morgen die Katheteruntersuchung ansteht und ich dafür nüchtern sein muß. Naja, nüchtern bin ich, schließlich habe ich gestern Abend zum letzten Mal etwas gegessen. Mark unterhält sich mit mir noch bis um kurz nach 22 Uhr bevor er sich auf den Heimweg macht.

Samstag, 25. April 2015

Friedericke-Adele, genannt Fritz




Prolog


Als ich auf die Welt kam, gaben sich meine Mutter und mein Erzeuger, merkwürdigerweise als mein Vater bezeichnet, alle erdenkliche Mühe mir mein zukünftiges Leben schwer zu machen. Sie ließen auf dem Standesamt den Namen Friedricke-Adele Adelsfried für mich eintragen. Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen: Friedericke-Adele Adelsfried. Erschwerend kommt dazu, daß ich am 29. Februar 92 unsanft aus meiner Mutter Schoß entfernt wurde – ich hätte gerne noch länger im Verborgenen vor mich hin geträumt. Jetzt kennt jeder meinen Steckbrief: Friedericke-Adele Adelsfried, geboren am 29.02.92 in einer unbedeutenden Kleinstadt in Deutschland.

Da, wie leicht erkennbar, der Tag meiner Geburt auf einen Schalttag fiel, fand es mein Vater angemessen, wenn er in den vorgegebenen Abständen von vier Jahren gleich einem Komet erschien, um mir zum Geburtstag zu gratulieren. Zuweilen, wenn es seine finanzielle Situation gerade gestattete, bekam ich sogar ein Geburtstagsgeschenk, üblicherweise eine Tafel Vollmilchschokolade vom Discounter. Ich mag Vollmilchschokolade nicht. Ich kann mich jedoch nicht entsinnen, ob ich zuerst die Vollmilchschokolade nicht mochte, oder meinen Vater. Als wir auf diese Art und Weise viermal meinen Geburtstag gefeiert hatten, war mein Vater der Ansicht, daß ich nun nicht mehr seiner Fürsorge bedürfe. Er verabschiedete sich artig und wurde nicht mehr gesehen.

Ich fand, ich war ein pflegeleichtes Kind. Die braunen Haare zu einer knabenhaften Kurzhaarfrisur gestutzt, das überwachte meine Mutter stets kritisch, mit Jeans und T-Shirt bekleidet wurde ich von ihr gemeinsam mit meiner Großmutter zu meinem ersten Kindergarten-Tag gebracht. Das Schild meiner Schildmütze im Nacken, sah ich mir mißtrauisch die Fremde an, die mich zu sich ziehen wollte. „Das ist also der kleine Fritz!“ „Fitz“ murmelte ich schüchtern. Bevor meine Mutter oder Großmutter etwas sagen konnten, wiederholte ich nochmals „Fitz“ und strahlte dabei die Fremde mit allen Mitteln, die mir mit meinen zwei Jahren zur Verfügung standen, an. Seit diesem Tag höre ich nur noch auf den Namen Fritz, auch wenn meine Großmutter zuweilen mahnend den Finger hob und tadelnd mit „Friedericke-Adele“ ihre Strafpredigt begann.


Meine Großeltern mütterlicherseits, denen ich den Nachnamen Adelsfried verdanke, boten meiner Mutter und mir bis ich in die Schule kam Asyl. Am Tag meiner Einschulung heirateten meine Mutter und Klaus und brachen sofort in ihre Flitterwochen auf. Ein halbes Jahr später sah ich meine Mutter wieder, mein winzig kleiner Bruder Tobias lag in ihren Armen, sie hatte Klaus nach nur sechs Monaten Ehe den ersehnten Stammhalter geschenkt. Davon, daß ich ein kleines Brüderchen bekommen hatte, hatten mir meine Großeltern schon erzählt, Klaus hatte den Kontakt zu ihnen gehalten. Und meine Großmutter erzählte mir von meiner Mutter, daß diese die letzten Wochen und Monate oft im Bett liegen mußte und jetzt der kleine Tobias viel zu früh auf die Welt gekommen war. Und so kam es, daß Tobias an dem Tag, als er eigentlich zur Welt kommen sollte, schon fast drei Monate alt war und ich endlich zu meiner Mutter, Klaus und dem kleinen Tobias ziehen durfte.

Sonntag, 14. Dezember 2014

Es war einmal

- ein Bauernhof -


Hinter den Bergen, da ist Afrika - und sitze ich auf der Schaukel, bin ich schneller dort... 

Es war im Sommer 1957 oder 1958 als ich, als Dreikäsehoch, zum ersten Mal Bekanntschaft mit einem Bauernhof schloss.
Natürlich hatte ich, am Stadtrand einer größeren Stadt lebend, bereits Hühner und auch den dazugehörigen Hahn kennen gelernt; auch war mir wohlbekannt, dass ein respektvoller Abstand zu Schnabel und Schwingen der imposanten Schwäne sehr zu empfehlen ist. Bei uns auf der Wiese war auch ein Bauernhof, das wusste ich, weil mir nämlich erklärt worden war, dass dies ein Bauernhof sei. Als Bauernhof betrachtet man also ein großes Backsteinhaus, in das man mit einem großen und hohen Ungetüm, wie zum Beispiel einer großen Dampfwalze, hineinfahren konnte. Und Dampfwalzen waren groß, das konnte ich jeden Tag auf unserer Straße bewundern. Ansonsten verfügt ein Bauernhof über einen großen Platz in der Mitte, wo man traumhaft spielen konnte.  Die Trauerweide im inneren des Hauses war aber nicht so traurig, wie die Trauerweide bei dem Haus am anderen Ende unserer Straße, dessen Fenster noch verdunkelt sind.

Aber zurück zu dem Bauernhof, den ich 1957 (-oder 1958) kennen lernte. An einem Sonntag packte mein Vater seine kleine Familie in den Käfer und wir brachen zum Riedhäuserhof auf, der bereits kurz hinter Wolfskehlen über das flache Ried zu erkennen war.

Mein Vater biegt von der Straße auf einen Feldweg ab, der Käfer holpert über große Steinplatten, bis wir vor dem einsamen Haus anhalten, das am Ende einer langen Mauer steht. Der Zaun des Vorgartens mündet in ein großes Eisentor, der unverwandte Blicke richtet sich jedoch auf Gitterstäbe hinter dem Tor. Ein großer Hund, ohne Fell, läuft drohend bellend hinter den Gitterstäben auf und ab. Als wir vorsichtig durch die Pforte gehen, springt der Hund wütend gegen seine Gitterstäbe, unsere Ankunft ist nicht mehr zu verheimlichen. Dr. Edler kommt uns entgegen, begrüßt unsere Eltern auf das herzlichste. Staunend stehe ich in dem Hof, der Bauernhof der Flugwiese, den ich bislang schon einige Male umrundet habe, ist winzig dagegen. Zögernd und doch neugierig folge ich Schorschi auf Erkundungstour. Meine Fantasie sammelt Nahrung.

Im Laufe der zahlreichen folgenden Besuche lerne ich einige Tiere kennen. Mächtige Pferde, schwarz-weiße Kühe, etliches Federvieh, vereinzelt auch Schweine. Doch mit dem Hund werde ich nicht warm, auch wenn er nicht mehr so bedrohlich bellt, wenn wir kommen. Unzählige Plätze werden erkundet, weit ab von kontrollierender Gegenwart Erwachsener und ohne Pflichten, die erfüllt werden müssen. Plätze zum Träumen.

Mein Vater, obwohl in der Stadt aufgewachsen und lebend, interessiert sich für Natur und Technik, an seiner schützenden warmen großen Hand darf ich die neue Stallanlage und auch den neuen Mähdrescher besichtigen, das Scheunentor reicht nur knapp, um den Mähdrescher hindurch zu lassen.
Meine Mutter, auf dem Dorf aufgewachsen, kann dem Eigengeruch der Tiere nichts abgewinnen, auch wenn im Gutshaus nichts außer dem verlockendem Duft aus der Butterküche und dem leckeren Blechkuchen zu ahnen ist. Die Pferde und Kühe sind auf der Weide, die Stallungen in für Kinderbeine weiter Entfernung zum Wohnhaus. Damit halten wir uns aber auch ausser Sichtweite des strengen Blicks der Mutter auf.
Die Besuche auf dem großen Hof finden ein Ende.

Dafür lerne ich einen Bauernhof in Nieder-Klingen kennen. Im Winter 1960 fahren wir zum Gretsche. Gretsche hat, nach ihrer Stellung im Haushalt meiner Großeltern, einen Bauern in Nieder-Klingen geheiratet. Mein Vater will sich vorübergehend ihre erwachsene Tochter als Hilfe für meine Mutter ausleihen. Von der engen Dorfstraße treten wir durch eine niedrige Tür in das Bauernhaus ein. Das Gretsche ist eine Bäuerin wie aus dem Bilderbuch. Sieht man sie an, so ist offenkundig, dass sie zupacken kann. Ihre umfangreiche Gestalt steckt in einer graublauen Kittelschürze, aus gleichem Stoff hat sie sich ein Kopftuch gefertigt, das straff um den Kopf gebunden ist und nicht einem Haar erlaubt aus der Reihe zu tanzen. Als sie mich an sich drückt, habe ich kurz Angst in ihr zu ertrinken. Alles riecht nach Kühen und warmer frischer Milch.
Meine Großmutter und mein Vater werden in die Gute Stube gebeten, ich gehe mit dem Bauern durch die gemütliche Küche in den Kuhstall, bekomme die Kühe mit ihrem Namen vorgestellt und darf die beiden schwarz-weißen Kälbchen streicheln, Zuhause haben wir keine Tiere. Ich unterhalte mich mit den Schweinen, ich beherrsche ihre Sprache perfekt.

Irgendwann ziehen im 1. Stock neue Mieter bei meiner Großmutter ein. Neben dem Ehepaar auch noch zwei Kinder und eine vornehme Pudeldame namens Chonky. Die ganze Familie ist äußerst vornehmen, beim Reden stolpern sie über einen spitzen Stein ;-). Chonky ist kaum zu hören, nie zu sehen. Chonky war so wenig zu sehen, dass ich mich noch nicht einmal an ihre Fellfarbe erinnere, dabei hat sie fast vier Jahre bei uns gewohnt. Dies lag aber auch an Mecky, dem schwarzen Königspudel, bei dem ich öfters war. Nur einmal wird es laut, wegen Chonky. Die Sylvesterböller haben Chonky erschreckt, ängstlich zieht sie sich unter dem großen Kleiderschrank zurück. Drunter ist sie gekommen, aber unter dem Kleiderschrank hervor hat sie es nicht mehr geschafft. Also musste er noch in der Sylvesternacht ab- und wieder aufgebaut werden. Mecky, der Königspudel, war auch sehr vornehm. Stolz sah er durch die Gitterstäbe des Zauns rund um das Grundstück, die schnöde Welt außerhalb seines Territoriums ignorierte er gekonnt, vorausgesetzt er verspürte nicht den dringenden Wunsch seine langen Beine über den Zaun zu bewegen und eigenständig zu einem Spaziergang aufzubrechen.

Damit wir einen Ausgleich für die fehlenden Tier im Haushalt hatten - meine große Schwester und ich wünschten uns sehnlichst einen Hund - bemühte sich unsere Mutter redlich, uns die Pflanzenwelt näher zu bringen. Oft diente der Sonntagsspaziergang zur Überprüfung unseres Wissens. Kurze Grannen, lange Grannen, keine Grannen - das Wissen wurde von mir sorgfältig in einer verschlossenen Schublade meines Gehirns aufbewahrt. Irgendwie habe ich ständig den Schlüssel zu besagter Schublade verlegt. Es ist doch vollkommen ausreichend, wenn man Hafer und Mais auseinander halten kann.
Viele, viele Jahre später antwortete mein kleiner Neffe auf die überprüfende Frage seiner Großmutter, um welche Pflanze es sich hierbei handelt, nach kurzer Überlegung "eventuell ein anderes Pflänzchen?" Warum ist mir nur als Kind nicht solch eine treffliche Antwort eingefallen!

Mit meiner Schwester mache ich eine Fahrradfahrt zum Reitstall an den Hirschköpfen, wir werden schon erwartet. Es folgt ein unbeschwerter Nachmittag im Pferdestall und die Aufforderung, wieder zu kommen. Schon als unsere Mutter uns die Wohnungstür öffnet, noch bevor wir etwas sagen können, hat ihr ihre Nase verraten, wo wir uns am Nachmittag rum getrieben haben. Nochmals beim gemeinsamen Abendbrot erhalten wir die unmissverständliche Ansage meiner Mutter, uns nicht mehr in die Nähe des Reitstalls zu wagen.
Am Sonntag, meine Mutter muss das Mittagessen vorbereiten, führt unser Vater seine drei Kinder zum Spaziergang auf das Oberfeld. Mein Vater hält bei der Koppel von Halla an, wir sehen beim Voltigieren zu.

Kurz vor der Geburt ihres dritten Enkelkindes hatte meine Großmutter fluchtartig ihre Wohnung geräumt, auch das letzte Zimmer der wachsenden Familie ihres Sohnes überlassen. In der Mansarde hat sie ihre Ruhe vor dem Tumult der Kinderschar. Zu irgend einem Weihnachten ist es dann soweit, damit seine Mutter nicht zu einsam ist, erwirbt mein Vater in der Zoohandlung einen Kanarienvogel. Ein Harzer Roller soll es sein, ein Hahn, damit sich meine Großmutter am Gesang erfreuen kann. Das erste nicht menschliche Lebewesen hält in unserer Familie Einzug. Dem armen Vogel ist kein langes Leben beschieden, meine Großmutter liegt im Krankenhaus, der Kanarienvogel ist zu uns in die Küche gezogen. Sein Käfig steht auf dem Kühlschrank, zwischen Herd und Fenster. Gründlich lüftet meine Mutter nach dem Kochen, damit der Essensduft nicht in die Wohnung zieht. Im Winter ist es kühl, der Kanarienvogel wird beerdigt.
Irgendwie hatte sich meine Großmutter aber doch an den kleinen Kerl gewöhnt gehabt, also erwirbt mein Vater erneut einen fröhlich zwitschernden Kanarienvogel, der fortan bei meiner Großmutter lebt. Der Kanarienvogel wird von mir und meinem Freund auf den Namen Oskar getauft.
Als meine Großmutter 1974 ins Pflegeheim übersiedeln muss und ich über eine eigene Wohnung verfüge, kommt Oskar oft auf Urlaub zu mir und meinem Mann. Aber wir wollen einen eigenen Kanarienvogel und so fliegt Hugo in unser Leben. Kommt Oskar zu besuch, so wohnt er bei Hugo im Käfig. Die beiden verstehen sich blendend.
Mein Vater hat Oskar noch nicht lang wieder zurück zu sich ins Reich geholt, als ich einen empörten Anruf meiner Mutter erhalte. Ich trage die Schuld und Verantwortung, weil ich die beiden Freunde zusammen gelassen habe, hat Oskar jetzt Eier gelegt und schickt sich an diese auszubrüten. Also fahre ich zu meinen Eltern, mir die Bescherung anzusehen und die drei winzigen Eier aus dem Käfig von "Oskatrine" zu entfernen. Als Oskatrine wieder zu uns in Pflege kommt, werde ich ausdrücklich von meiner Mutter darauf hingewiesen, dass die beiden Kanarienvögel nicht mehr zusammen in einen Käfig dürfen. Und dennoch, wieder zurück in ihrer gewohnten Umgebung, legt Oskatrine wieder meiner Mutter Eier auf den Käfigboden. Dieses Mal habe ich ein schlagendes Argument, als ich gerügt werde: Hugo hatte ebenfalls Eier gelegt.
Nun, die Erfahrungen mit den Kanarienvögeln haben uns eins gelehrt, die Geschlechtsbestimmung ist angesichts der Größe des Vogels sehr schwierig. Aus diesem Grund soll es nun ein Nymphensittich sein. Natürlich ein männlicher. Fridolin zieht bei uns ein. Fridolin sorgt für Leben im Haus, seine laute Stimme ist wohl vernehmlich. Fridolin ist ein prima Wachhund und verrät jeden, der sich an unserer Dachgeschosswohnung vorbei schleichen will, um auf dem Boden zu räumen, oder Wäsche auf dem Trockenboden aufzuhängen. Fridolin ist ein munterer Geselle, ist mein Mann zuhause, darf er seinen engen Käfig verlassen und fliegt in der Wohnung umher. Zu Beginn ähnelt er jedoch mehr einem Bruchpiloten, denn einem gekonnten Flieger, er steuert die Blumenpracht in unserem Flur an. Leider handelt es sich dabei jedoch lediglich um Tapete, nicht tatsächlich um Blumen, auf denen man sich niederlassen kann. Fridolin knallt gegen die Wand und stürzt ab - rein in meinen engen Handarbeitskorb. Katzen fühlen sich ja wohl, wenn sie mit Wollknäulen spielen dürfen. Fridolin fand die bunten Fäden, die ihn umgaben weniger prickelnd, er konnte sich nicht von selbst aus seiner Fallgrube befreien.
Aber, wen wundert es, nach drei Jahren ereilte auch Fridolin sein Schicksal, aus heiterem Himmel begann er Eier zu legen.

Die Erfahrung mit den singenden und pfeifenden Vögel langte uns, als wir in unser eigenes Haus zogen kam daher als nächstes eine knallrote Ente in unseren Haushalt. Die Ente war und ist eindeutig mein Lieblings-Vogel. Meine rote Ente, es war Liebe auf den ersten Blick. Mein Schwiegervater vermittelte uns den Kontakt, wir betraten den Verkaufsraum und schon zwinkerte die Ente mir mit ihren großen runden Augen zu. Ihr war keine Schüchternheit zwischen all den anderen prächtigen Gefährten anzusehen. Der Verkäufer bot uns an, dass wir im Lager gerne noch nach anderen Enten sehen könnten, doch ich hatte meine Ente gefunden. - Für alle, die sich mit dieser speziellen Art des Federviehs nicht, oder besonders gut, auskennen, es war ein 2CV4, also mit 22 trabenden Pferdchen. - Meine Ente und ich verließen glücklich und in größter Harmonie am nächsten Tag gemeinsam ihren bisherigen Stall, unser gemeinsames Abenteuer, das über 4 Jahre währte, begann.

Borris vom Roßberg


Ein eigenes Haus mit Garten, was hier fehlt ist, neben der Ente, ein lebendes Haustier. 1977/78 werden Hunderassen in der Zeitschrift "Das Haus" von der LBS vorgestellt. Ich favorisiere zunächst einen Riesenschnauzer oder einen Collie und dann erscheint der Artikel über meinen Traumhund, eine neue Hunderasse, der Eurasier. Es vergeht nicht mehr viel Zeit, bis mein Mann und ich uns auf einen Eurasier-Rüden einigen und ich mich an die Schreibmaschine setze, um mit Herrn Nagel Kontakt aufzunehmen. Leider fordert seine Antwort Geduld von uns, der Eurasier wird ausschließlich privat gezüchtet und da die Hunderasse noch so jung ist, sie wurde erst 1964 als eigenständige Rasse eingetragen, ist er auch nicht so weit verbreitet. Doch schon im Frühjahr 1979 erhalte ich von Herrn Nagel Nachricht, die Hündin Kia vom Stechersee wurde gedeckt und, wie es der absolute Zufall so will, das Heim von Kia ist nicht nur in unserem Ort, nein Kia wohnt in unserer Straße, nur ein paar Häuser von uns entfernt.
Kia vom Stechersee mit B-Wurf
Ich darf Kia besuchen, mir den Wurf ansehen. Ich bekomme von Kia persönlich die Erlaubnis erteilt, sie gewährt mir Zutritt zu ihrer Wurfkiste, erstaunt wird es von ihrer Zweibeinerin registriert: Kia befindet mich für würdig, die Verantwortung über eines ihrer Kinder zu übernehmen. Es folgen viele Besuche bei Kia und ihren Kindern, ich sehe, wie die Welpen die Augen öffnen, neugierig die Umgebung ihrer Wurfkiste erkunden. Und ein kleiner Welpe, ihr zweitjüngster, ist ganz begeistert von mir, ich natürlich auch von ihm. Es ist Borris und bald wird er ganz bei uns sein. Irgendwie hat sich Borris nur bei der Geburt nicht so geeilt, seinen fünf älteren Geschwistern den Vortritt gelassen,
B-Wurf vom Roßberg
jetzt holt er alles nach. Er ist der erste, der die Lücke im Zaun entdeckt, er ist der erste, der beginnt seiner Mutter auf dem Kopf herum zutanzen, wenn ein Blumentopf umfällt, ist Borris nicht weit. Wäre Kia dazu in der Lage, würde sie sich wegen ihm des öfteren den Schweiß von der Stirn wischen, so überlässt sie diese Tätigkeit ihrer Zweibeinerin.
Seinem Übermut hat Borris auch seine erste Schrecksekunde zu verdanken. Noch sind die Welpen, kaum sechs Wochen alt, im Souterrain gefangen, als Borris unbedingt seiner Mutter über die Treppe in die Wohnung folgen muss. Die Treppenstufen sind fast höher, als er sehen kann, aber was seine Mutter kann, muss ihm doch wohl auch gelingen! Also nimmt er Anlauf und erklimmt die erste Stufe, hat doch geklappt, auf zur nächsten Stufe, auch geschafft, ganz schön anstrengend, weiter geht's. Nochmals etwas Schwung holen und auf zur dritten Stufe - huch ist das glatt - Maamaa!! Sein entsetztes aufheulen und anschließendes Winzeln lässt die menschliche Familie anrennen. Borris rutscht mit viel Schwung über die dritte Treppenstufe um dann auf der anderen Seite der Stufe in den Abgrund zu stürzen. Borris fällt von der offenen Wendeltreppe wieder zurück auf den harten Boden, bleibt wo er hingefallen ist schreiend liegen. Kinder!
Bald ist es soweit, Borris tanzt seiner Mutter so heftig auf der Nase herum, dass mich die Züchterin dringend darum bittet, ihn früher als ursprünglich geplant zu übernehmen. Also wird die Ente gesattelt und nur wenige Stunden später - irgendwie hatten wir uns bei Kaffee & Kuchen verplaudert - musste Borris auf eigenen Pfoten sein neues Heim erkunden. Oh ja, auf eigenen Pfoten. Jetzt musste sich beweisen, wer über den grössere Starrkopf von uns beiden verfügte. Ich war mit meiner Ente in die Garage gefahren und damit wurde Borris im Keller mit seinem neuen Heim bekannt gemacht. Mit Keller assoziert man sofort eine Treppe: Borris folgte mir auf den Fersen bis zur ersten Stufe, um sich dort in eine Häufchen Elend zu verwandeln. Treppen sind gemein und hinterhältig, lassen einen in den Abgrund fallen, das war im bewusst und so saß Borris vor der Treppe, weinte, bettelte und jammerte, dass endlich jemand kommen sollte, um ihn zu erlösen, denn schon lange saß ich nicht mehr auf der obersten Treppenstufe, um ihn hoch zu locken. Auch erschienen wir nicht mehr in kurzen Folgen hintereinander, einmal mein Mann, dann wieder ich, um ihn zu uns zu rufen.
Endlich konnte er mich davon überzeugen, dass ich wieder zu ihm runter in den Keller kam, aber anstatt ihn auf den Arm zu nehmen und hoch zu tragen, was mache ich blöde Zweibeinerin, stelle ihn einfach auf die unterste Stufe und verschwinde wieder nach oben herzlos auffordernd, dass das arme Hundekind mir folgen sollte, schließlich waren die Stufen im Garten bei Kia höher gewesen, die er mühelos hoch und runter gerannt war. Wir sind schon fast beim Abräumen des Abendbrot-Tisches als kein Ton mehr von Borris zu hören ist, dafür leises Tapsen, er hat die Kellertreppe bezwungen umrundet stolz den Esstisch, um sich dann ungestört unter den Tisch zurück zu ziehen und den Teppichboden einzuweihen.
Borris ist ein kleines Sensibelchen, lässt sich mit den einfachsten Mitteln zurückhalten. Leider hat es nicht geklappt, dass wir pünktlich zu seinem Einzug bereits über einen Gartenzaun verfügen, als haben wir kurzer Hand einen Maschendrahtzaun um unsere Terrasse aufgestellt. Die Terrassentür vom Wohnzimmer steht weit auf, wir sitzen auf unserer Terrasse, doch Borris mag nicht zu uns kommen. Der Grund sind seine empfindlichen Pfötchen, die die Berührung mit dem Gitter des Kellerfenster-Schachtes scheuen. Erst als ein Holzbrett über dem Gitter liegt, spaziert Borris munter raus und rein.
Borris auf der Terrasse Anfang September 1979
Natürlich bietet der Zaun dem neugierigen Welpen nicht viel Widerstand, geschickt beult er ihn innert kürzester Frist aus und entwickelt sich schnell zu einer leidenschaftlichen Wühlmaus, seine erdige Schnauze verrät ihn.
Nach 14 Tagen ist es soweit, ab sofort darf Borris wieder an Kias Seite seinen mittäglichen Spaziergang unternehmen.
Längst hat er sich an Halsband und Leine gewöhnt, ist absolut Stubenrein und folgt mir, außer zur Arbeit, auf Schritt und tritt. Ich bin stolz auf meinen Hund, am Abend darf er zum ersten Mal mit zum allwöchentlichen Abendessen in den Hessischen Hof kommen. Und weil ich so stolz auf Borris bin, gehe ich am Nachmittag noch rasch ein Echt-Leder Halsband und eine schwere dazupassende Leine kaufen. Mein Vater hat ein Dauer-Abo auf einen Ecktisch, jeden Freitag um 20 Uhr und wer von der Familie verfügbar ist, nimmt an dem freitäglichen Ritual teil - und zwar gerne. Und so sitzen wir auch dieses Mal zu sechst am Tisch, ich wie immer auf der Bank, Borris hat sich friedlich unter meinen Sitzplatz verzogen, kein Laut lässt darauf schließen, dass er anwesend ist. Als ich auf die Toilette muss, übergebe ich meinem Mann die Leine, doch komme ich nicht weit, als Frau Fischer zu lachen anfängt. Ich drehe mich um und entdecke Borris, der mir folgt. Borris hat seine funkelnagelneue Leine in handliche 5 cm Abschnitte geteilt, mein Mann hält ein hundeloses Leinenende fest in der Hand. Soviel zur teuren Anschaffung einer robusten Hundeleine.
Überhaupt entwickelt Borris im Laufe seines Lebens eine eigene Einstellung zur Leine. Auf jeden Fall ist er der Herr über die Leine, schließlich hat die Leine ihm zu dienen und nicht ihn zu gängeln. Überwiegend kann man seine Leine mit dem kleinen Finger halten, überwiegend. Es gibt in seinem Leben jedoch Ereignisse, die ihn dazu veranlassen, auf seine persönliche Art und Weise zu reagieren. Nur durch drei Häuser von uns getrennt, verläuft die Bahnlinie zum örtlichen Bahnhof. Die Gleise liegen verborgen unter dem für Bahndämme typischen Gestrüpp, das das Gleisbett schon nach kurzer Zeit erobert, wenn keine Züge mehr fahren. Der Bahnhof ist seit Jahren stillgelegt, genauso die Bahnstrecke - bis auf Revisionsfahrten. Morgens, vor der Arbeit, geht mein Mann mit Borris spazieren. Borris darf frei laufen und weil nie Bahnverkehr ist, wird nicht die Unterführung genutzt, sonder der kurze Weg über dem Damm. Borris lernt gerade Zeitungen zu lesen, muss sich voll auf seine Tätigkeit konzentrieren, während mein Mann bereits den Damm überquert hat und auf dem Feldweg läuft. Plötzlich zerreist ein schriller Pfiff, wie ihn nur Rangierloks ausstoßen können, die Ruhe des Morgens, Borris läuft in panischem Schrecken vom Gleisbett runter aufs freie Feld und ist binnen kürzester Zeit aus dem Blickfeld meines Mannes entschwunden. Seine Suche ist vergeblich und so kommt mein Mann ohne Borris zurück und übergibt mir die Hundeleine, er muss auf Arbeit fahren. Mein Mann ist kaum zur Arbeit losgefahren, als ich Borris vorne zur Haustür herein lasse. Nach diesem Erlebnis muss man, sofern Borris an der Leine ist, diese richtig ernsthaft festhalten, sowie eine Lok pfeift, oder ein Traktor oder LKW hupt. Befindet er sich im Moment der ihn störenden Geräuschentwicklung nicht an der Leine, so bleibt einem nur wieder nach Hause zugehen, um dem geduldig wartenden Hund die Haustür zu öffnen. Zurückpfeifen lässt sich Borris nicht.
Merkwürdigerweise gehört zu den Borris störenden Geräuschen auch das Klicken einer Kamera, schließlich kann man nicht behaupten, dass Borris nicht fotogen wäre. Das Klicken einer Kamera stört ihn auch bei weiter Entfernung, zumindest im Freien. Leider.
Salums, 12/1979
Obwohl es mir bekannt ist, fotografiere ich ihn gerne. So auch, als wir über Weihnachten bei meinen Eltern in der Schweiz sind. Kaum ist das Bild auf Zelluloid gebannt, sieht mich Borris strafend an und verschwindet in Richtung Wald. Keine gute Idee, schließlich werden freilaufende Hunde als streunende Hund qualifiziert und sind zum Abschuss freigegeben. Die ganze Familie bricht auf, um den Ausreißer zu suchen, nach zwei Stunden ist der Schneefall so dicht, dass nichts mehr zu sehen ist, bei jedem Schritt muss man sich durch 70 cm Neuschnee kämpfen. Ich gebe die Suche auf, doch gehe ich bald alle 10 Minuten vor die Tür und Rufe nach Borris. Wir können ihn in diesem Schneechaos nicht finden, jetzt kann nur Borris sich selbst retten, in dem er den Weg zurück findet.
Auch wenn die Wolken sich verziehen, es wird viel zu früh dunkel, Borris ist immer noch vom tiefen Schnee verschluckt, was hilft es da, dass Mond und Sterne um die Wette funkeln? Wieder und wieder gehe ich an die Haustür, sehe um die Hausecke nach unten, doch ich sehe nichts als eine dicke Schneedecke und weiter unter mir den Waldrand mit den hohen dunklen Tannenbäumen. Kein ideales Gebiet, um alleine im Schnee umher zu irren, zumal auf der anderen Seite des Walds die Alm ein jähes Ende findet und sich einige hundert Meter weiter unten der Hinterrhein sein Bett durch die Felsen gefressen hat. Die Abendessens-Zeit ist schon lange vorbei, ich gehe wieder an die Haustür und vor zur Hausecke, der Schnee hat die Treppe zur Souterrain unpassierbar gemacht, angestrengt sehe ich in die Dunkelheit, erneut hat Schneefall eingesetzt. Ich gehe in die Knie und flüstere mehr, als ich ruft "Borris, Borris, komm, das schaffst du jetzt auch noch!" Ich strecke meine Arme aus und ziehe die letzten beiden Stufen mein völlig entkräftetes und über und über mit Schneeklumpen bedecktes Hundekind hoch und in die Arme. Die ganze Familie steht um uns beide herum, als ich mich auf sein Hundekissen setzte und Schneeklumpen für Schneeklumpen aus seinem Fell zupfte. Mit einem Handtuch zugedeckt, lag er anschließend matt auf seinem Kissen, während meine Schwester, geübt darin kleine Kinder von der Nahrungsaufnahme zu überzeugen, dem "Bieserl" Futter vor die Schnauze legte, damit er wieder zu Kräften kam.
29.12.1979
Wenn man jung ist, hat man gute Nerven, also durfte Borris sich überwiegend frei bewegen. Er war auch sehr folgsam, schließlich gab es ja auch nur zwei Möglichkeiten, entweder er kam, oder er kam nicht. Langsam kam die Zeit, in der Borris, schließlich wog unser kleiner Wonneproppen im zarten Alter von 6 Monaten 24 kg, sein Babyfell -Unterfell - mit dichtem Deckhaar zu schützen begann und gleichzeitig die Übung sein Bein zu heben trefflich perfektionierte. Einher mit der Perfektion des Beinhebens ging, dass Borris jedem, wirklich jedem, Weiberrock nach sah.

Wir waren im Januar kaum aus der Schweiz zurück, als Borris krank wurde. Richtig ernsthaft. Unser Tierarzt diagnostizierte, dass Borris sich mit der Katzenseuche infiziert hatte. Aus unserem Wonneproppen wurde innerhalb von 4 Tagen ein schlankes Hundekind  von 16 kg. Borris erreichte nie mehr seine kräftige Statue, bis ins hohe Alter erreichte er kein höheres Gewicht als 22 kg und hatte damit ungefähr 10 kg Untergewicht, etwas, was von seinem dichten Fellkleid stehts gut verborgen gehalten wurde. Aber Borris und ich hatten Glück, die Katzenseuche blieb seine einzige ernsthafte Erkrankung. Natürlich war die Genesung von der Katzenseuche schwierig. Borris hatte Kamillentee, geschmacklich aufgebessert durch Medizin, verordnet bekommen, ab und an durfte er sich auch an einem Klecks Haferbrei laben. Weder Kamillentee, noch Haferbrei fanden Gnade vor seiner Zunge. Und so kam es, wie es kommen muss, ich erwischte Borris dabei wie er, dem Mann im Haus sei dank, seinen Durst aus der Toilettenschüssel stillte.

Mit der wärmen Jahreszeit begannen auch wieder die ausgedehnteren Spaziergänge von Borris und mir Richtung Scheftheimer Wiesen und Steinbrücker Teich. Oft verließen Borris und ich die Wege, die sich durch den Wald schlängelten. Meist, ich gebe es zu, weil meine Gedanken nicht wirklich in der Gegenwart weilten. Und Borris, an der kurzen Leine, bekam dann den Auftrag von mir, mich wieder nach Hause zu bringe. Etwas, was er mit größter Präzession und in kürzester Frist, durchführte, selbstverständlich ab der vorgeschriebenen Wege, lediglich die Wildwechsel- und Fußgängerbrücke über die B26 verfehlte er nie.
Turbulent konnte der Spaziergang werden, gingen wir zusammen mit seiner Mutter Kia und deren Zweibeinerin, zu Silke und Peter hatte sich inzwischen eine schöne Freundschaft entwickelt, spazieren. Da kam es schon einmal vor, dass Borris so sehr mit seiner Mutter Kia tobte, dass er im ausgelassen Spiel von hinten mit Schwung in mich rein lief. Dies endete damit, daß ich mich rückwärts auf dem Feldweg flachlegte. Kia hatte etwas ernstes an sich, meine Mutter fand die rabenschwarze Kia furchteinflössend, Borris hingegen hatte von seiner Optik her mehr die Ausstrahlung eines Kuscheltieres. Eine Einschätzung, die folgenschwer enden konnte. So ging es auch einem Spaziergänger, der mit seinem Cocker Spaniel unseren Weg kreuzte. Kia und Borris hatten gerade ausführlich miteinander getobt, lagen im Schatten einer Kastanie und warteten geduldig auf das Ende der Unterhaltung zwischen Silke und mir, wir waren in Holunderernte vertieft, als der Cocker Spaniel, eindeutig ein Rüde, zu mir kam und andeutete, als wolle er mich markieren. Borris, der in 10 Meter Entfernung lag, stand auf und knurrte warnend. Ich bat den Halter des Spaniels, seinen Hund zurück zu pfeifen, doch dieser lächelte nur dazu, nahm die Warnung von mir und Borris nicht ernst. Da der Spaniel nicht von meinem Bein wich, drängte sich Borris schützend vor mich und schob dabei den Spaniel zu Seite, woraufhin dieser seine Schnauze, allerdings nicht aus freundschaftlicher Zuneigung, zeternd ins Fell von Borris vergrub. Nochmals bat ich den Hundehalter darum, dass er seine Spaniel zur Räson rief, doch dieser meinte dazu nur, warum, mein Hund wäre doch lammfromm. Weniger, weil sich Borris in seiner Ehre gekränkt fühlte eher, weil Borris einen ausgesprochenen Beschützerinstinkt mir gegenüber entwickelt hatte und gleichzeitig ihm der Spaniel mächtig auf die Nerven ging, packte er diesen im Knick, zog ihn sich aus dem Fell und warf diesen dann fünf Meter durch die Luft, seinem Herrchen vor die Füße. Borris beherrscht den Griff einer Tiermutter so gut, dass noch nicht einmal das Fell des Spaniels feucht geworden war. Die Menschen schwiegen, auch die Hunde gaben keinen Laut von sich, Kia stand stramm vor Silke und Borris stand vor mir, seinen Blick starr auf den Cocker Spaniel gerichtet. Ohne ein weiteres Wort entfernten sich Herr und Spaniel zügig in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Borris und ich wohnten inzwischen allein im Haus, als eines Nachmittags der Nachbarsjunge zu mir kam, er sollte Nachhilfe in BWL für die Abschlussarbeit über sich ergehen lassen. Zwar hat der Nachbarsjunge im Anschluss sein Prüfung mit Bravour bestanden, doch hat es seine Eltern ein Paar Jeans gekostet, hatte doch Borris die Zeit der Nachhilfe genutzt, um ein Hosenbein bis zum Knie hinauf zu zerkauen.

- wird fortgesetzt...